Imaginaria

„’Imaginaria‘ is a term describing both a night watch and the night watcher.”

Diese Worte bilden die Einleitung zu „Imaginaria“ von Orbis Tertius Games. Es wird eine Nachtwache begleitet – aber nicht irgendwo, sondern in der Antarktis. Kontrollgänge stehen in der hiesigen Forschungseinrichtung auf der Nachtordnung. Brände und andere Gefahrenherde sollen damit vorgebeugt werden. Durch die Abgeschiedenheit des Ortes ist jeder Verlust an Material und Ressourcen mit fatalen Folgen verbunden, aber der Reihe nach …

Die Antarktis ist ein Kontinent am südlichsten Erdpunkt. Seit 1961 wird durch den Antarktis-Vertrag festgehalten, „dass die unbewohnte Antarktis zwischen 60 und 90 Grad südlicher Breite ausschließlich friedlicher Nutzung, besonders der wissenschaftlichen Forschung, vorbehalten bleibt.“ (Wikipedia)

Imaginaria“ basiert auf den Erfahrungen von lunafromthemoon, Hauptperson der Entwicklung. 15 Monate Aufenthalt in der Antarktis sind in das Spiel geflossen und haben sich aus dem Kopf heraus in der Wirklichkeit manifestiert. Der Wunsch zur Verarbeitung dieser Erlebnisse endete nach reichlich Überlegung in „Imaginaria“ – „It was like I needed to purge this game out of my body.”

Das Prinzip von „Imaginaria“ ist simpel. Ihr startet in eurer Unterkunft und bereitet euch auf den nächtlichen Kontrollgang vor. Jede Szene besteht aus einem Bild, in dem verschiedene Objekte interagierbar sind. Durch Klicken wird ein Textfeld getriggert. Zu den jeweiligen Ereignissen werden dann Informationen in Form eines Monologes erzählt; manche Dinge nehmen wir mit (beispielsweise die Kleidung, die ihr vor dem Rundgang anlegt). Wir erfahren, wie viele Schichten Anziehsachen notwendig sind und was die Leute eigentlich für Klamotten tragen. Mit kaltem Körper lebt es sich nicht besonders angenehm brrr.

Der Laptop am Schreibtisch wird als „my piece of home“ bezeichnet.

I’m spending the dead of winter learning pixel art and creating game engine to make interactive fiction.”

Schließlich greifen wir zum Radio, weil jede Person jenseits der Innenräume erreichbar sein muss (das Radio funktioniert wie ein Funkgerät). Tatsächlich hat sich mal jemand beim Käse holen verlaufen und wäre fast erfroren – also immer dabeihaben!

Und dann startet der Rundgang: In Bezug auf die Reihenfolge der Überprüfung wird freie Hand gelassen. Richtungspfeile in den jeweiligen Szenen deuten auf die Wege und Möglichkeiten. Ziel ist es, jeden Ort einmal abzuchecken. Eine Karte gibt es nicht.

So gestaltet sich „Imaginaria“ bis zuletzt: Es ist eine kleine Führung durch die eigenartigen Lebensumstände auf einem abgelegenen Fleck Erde. Allerhand interessante Fakten werden geteilt; verpackt in einer sehr persönlichen Sichtweise. Alles harmoniert mit einer ausgewogenen Berichterstattung zwischen Intimität und Information. Präsentiert wird eindrucksvoll das gewöhnliche Leben an einem ungewöhnlichen Ort. Hier verleiht Kälte den Plastikschreibtafeln die Oberhand gegenüber elektrischen Tablets und Papier. Das 1mbps Internet teilen sich im Sommer bis zu 150 Leute (die Leitung kämpft, wenn nur eine Sprachnachricht verschickt wird). Essen gilt als „das gute Zeug“, wenn die Dose noch keine vier Jahre abgelaufen ist. Und so weiter.

Neben Visual Novel kann das Spiel auch Visual Documentary genannt werden, allerdings habe ich diesen Begriff erst einmal gelesen und weiß nicht, ob es sich um eine anerkannte Kategorie handelt, um solche Videospiele zu beschreiben (ist nicht jede documentary visual??). Laut Entwicklung ist es “equal parts visual novel, point & click adventure, walking sim and documentary.”

Um beim Wischschuellen zu bleiben: „Imaginaria“ wird in luftdurchlässiger 1-Bit-Pixel-Art aufgetischt. Schwarz und Weiß konturieren. Manchmal blitzen die Sterne am Himmel bunt auf, aber das war’s auch. Alle Bilder sind handgefertigt und an die realen Orte angelehnt. Manche Szenen fielen der technischen Limitierung zum Opfer und wurden zusammengelegt oder weggelassen. Die echte Station ist wesentlich größer.

Unter der Oberfläche sorgt das Klanggerüst aus Klavier- und Synthies für Behaglichkeit. Stellenweise sind auch Toneffekte wie Wind, Wasser oder Motorengeräusche verbaut. An einigen Stellen wirkt der Sound dröhnend und düster, aber nie unheimlich. Das ist ein perfekter Spagat, wovor der Hut zu ziehen ist. In den Wohnhäusern werden im Gegensatz gemütliche Töne angeschlagen. Allgemein wird beim Sound auf die Bit-Limitierung verzichtet, was ich sehr begrüße. Dem transportierten Lebensinhalt verbleibt so die Bodenständigkeit.

Insgesamt fügt sich der Art-Style wunderbar in das Setting ein. Die minimalistische Darstellung in Kombination mit dem Audio liefern ein kräftiges, nicht überzeichnetes Bild dieses mystischen Kontinents. Vor allem Dunkelheit und Kälte scheinen aus dem Bildschirm zu kriechen, werden aber wunderbar durch die herzlichen Beschreibungen und Alltagsgeschichten abgefedert. Das mochte ich sehr.

Imaginaria“ bleibt in seiner Gänze unaufgeregt. Es passiert kein Unglück und es gibt keinen Spannungsbogen; dieser ist bei der textlichen Begleitung auch nicht notwendig. Formulierungen, Geschichten und Darstellungen kurzweilen vor sich hin. In einer Stunde lässt sich der Einblick in die kleine Forschungsstation vollenden und die Nachtwache abschließen. Es bleibt das Gefühl, unerreichbar vereiste Lebenseinblicke erfahren zu haben.

IMAGINARIA • ORBIS TERTIUS GAMES • 2021 • PC