„Coming of Karlo“ ist ein über 600 Seiten straffer Roman von Lisa Kränzler, welcher 2019 als ihr sechstes Werk über den Verbrecher Verlag erschien. Wie der Titel schon anmutet, handelt es sich in der gröbsten Schublade um eine Coming of Age Geschichte.
Mittelpunkt ist der 17-jährige Karlo, welcher eine rasante Persönlichkeit besitzt und seine Gefühle und Energien noch nicht so recht einzusetzen weiß. Als gutaussehend aufmüpfiger Rebell scheint die Welt ihm zu Füßen zu liegen; jedoch wurde eben diese durch ein mieses Offener-Schienbeinbruch-Foul beim Fußballspielen rapide in Mitleidenschaft gezogen. Seinem liebsten Hobby kann er nun nicht mehr nachgehen und die Verletzung heilt trotz langer Genesungsphase nicht aus. Er spürt ab und an starke Schmerzen, die ihn in seiner Gehfunktion milde beeinträchtigen. Dies passt ganz und gar nicht zu seinem bisheriges Alleskönner Selbstbewusstsein.
Zu allem Überfluss entdeckt er in den Habseligkeiten seiner Mutter verschiedene alte Fotografien mit einem Unbekannten Mann, der ihm zum Verwechseln ähnlichsieht. In Karlo entsteht die Gewissheit, von einem anderen Vater zu stammen. Seine Mutter verheimlichte ihm diese Information; vielleicht auch um ihren jetzigen (ebenso unwissenden) Ehemann Frank nicht zu erzürnen, welcher ein „fettfingriger Vollidiot ist“ [Zitat Karlo].
Turbulenzen über Turbulenzen. Mit den Mädchen in seiner Jahrgangsstufe geht es Karlo jedoch ganz gelassen an. Er braucht nur mit den Wimpern zu schlagen und schon tanzen alle nach seinen dunklen Augen. Eines Tages kommt jedoch eine neue Kandidatin in seine Klasse, die eine wahre Toughigkeit in Person darstellt und seine Aufmerksamkeit weckt. Zwischen Gwen und Karlo entsteht eine gebündelte zwischenmenschliche Beziehung, mit für ihn komplett neuen schwindelerregenden Höhen. Diese Höhen drohen jedoch an Halt zu verlieren und er fühlt sich nach und nach in den freien Fall gedrängt; nicht zuletzt auch durch Gwens selbstständig konsequente und selbstbewusste Art. Und so nehmen die Mondphasen ihren Lauf…
Lisa Kränzler erzählt die Geschichte über den heranwachsenden Karlo mit einer immersiven und artspeziellen Wortgewalt. Vergleiche und Metaphern erstrecken sich auf ungewöhnliche Sachverhalte, die auf den ersten Blick verwunderlich, auf den zweiten aber fast schon ertappend passend wirken – so, als wäre es eine Schande bisher niemals selbst solche abstrusen Assoziationen gebildet zu haben. Die Bilder, welche sie in den lesenden Köpfen pflanzt, verselbstständigen sich und erzeugen in wohl jeder Person eine etwas andere Vorstellung und Gefühlsauslösung. Von deutlicher Kreativität zeugt dabei auch der Schreibstil, der sehr fluide zwischen linearer Erzählung, detaillierter Beschreibung, Versreimen und Wortaufzählungen wechseln kann und sich so in einer permanenten Gestaltwandlung befindet.
Dies geschieht abgestimmt und wirkt nur an wenigen Stellen aufgesetzt; in dem sehr überwiegenden Teil beweist sie jedoch ihr geschicktes Händchen für lyrische Kunstgriffe, die in solcher Form wohl keine Blaupausen besitzen. Ein ähnlich geschriebenes Werk ist mir jedenfalls noch nicht untergekommen, was durchaus für die Einzigartigkeit von CoK spricht.
Leider sprengt die anspruchsvolle Sprache zum Teil ihren Rahmen und überfordert an ruhigeren Passagen des Buches ab und zu. Langatmigkeit findet ein wenig Platz und kann es sich auf einigen Seiten bequem machen; alles in allem ist das im Verhältnis zur spannenden Unterhaltung jedoch eher unausgeprägt.
Ebenfalls beeindruckend sind die vielen Hintergrundinformationen, mit denen das Buch gespickt ist. Entweder hat Lisa Kränzler Gedächtnis und Kenntnis wie ein Freibadbecken oder einen nicht grade kurzen Wikipedia Verlauf (wahrscheinlich eine gesunde Symbiose aus beidem). Wie auch immer eingespeist; es ist faszinierend über verschiedene Rubriken süffisant-schlau verpackten Fakten zu begegnen.
In puncto Themen zeigt die Geschichte mitsamt Charakteren eine schleichende Entfaltung kritischer Gesellschaftsnormalitäten. Es wird mit Klischees gespielt; dies so auszudrücken wäre aber zu platt: Viel mehr ist die Innenwelt der Figuren (vor allem Karlos) derart ausgeleuchtet, dass eine emotionale Nachvollziehbarkeit zu den typischen maskulinen und „mackerhaften“ Rollenbildern nachvollzogen werden kann und dabei auch deutlich wird, wo deren Ursprung liegt. Die Entwicklung von toxischen Männlichkeitsmustern sprießt aus vorerst kleinen Samen und entwickelt sich zu gewaltvollen Verhalten jenseits des guten Geschmacks. So werden neben den Ursprüngen auch die Konsequenzen und Schwierigkeiten dargestellt, mit welchen junge Menschen angesichts der Anforderungen und Ansprüchen in Bezug auf ihre Persönlichkeit klarkommen müssen. Der Umgang ist alles andere als einfach. Was für uns als eine völlig gewöhnliche „jungs“- oder „mädchen“hafte Entwicklung erscheint, birgt unter der Oberfläche eine lange Kette an Erfahrungen und Vorgaben, auf die nur sehr selten eine differenzierte Sichtweise geboten wird; jedenfalls was den öffentlichen Umgang mit dieser Thematik betrifft. Kommunikation und Misskommunikation spielen als Schlüsselelemente hierbei eine mehr als wichtige Rolle. Auch bei den schon längst Volljährigen.
„Coming of Karlo“ ist ein erwachsenes Werk in Jugendsetting, das durch authentische Nähe zu pubertären Abenteuern und Gefühlsachterbahnen erfrischt. Es vollführt eine einzigartige Slalomfahrt durch die Geschichte eines verschlafenen Städtchens und dem dort lebenden Kreis um Karlo. Wer auf experimentelle Sprache steht, wird hier keinesfalls enttäuscht. Wer davon schnell genervt ist, sollte am besten ein paar Kapitel probelesen, um den Schreibstil kennenzulernen. Lohnen wird es sich allemal.
LISA KRÄNZLER • ROMAN • 2019 • 624 Seiten • Verbrecher Verlag