Doberlug-Kirchhain ist ein Kaff in Brandenburg. Nach diesem Satz würde der Beitrag um die DDR-Subkultur auch schon aufhören, wäre da nicht das anliegende, noch kleinere Kaff Lugau und sein Gasthaus. Doch dazu gleich mehr. Heute wirken die Gebäude am Bahnhof von Doberlug-Kirchhain wie in der Zeit stehen geblieben. Sie scheinen sich dem Verfall zu nähern und drohen die umliegende, kulturverlassene Gegend damit anzustecken. Oder sie haben es schon längst. Wer weiß schon, was hier was bedingt oder beerdigt. Innerhalb der Umstiegspausen lässt sich jedenfalls in der näheren Umgebung nichts ausmachen, was das Verlangen nach einem erneuten Besuch wecken könnte.
Vor über dreißig Jahren war das anders. Innerhalb der damaligen DDR-Mauern ließ sich ein Stückchen Abenteuer über diese Bahnanlage erreichen. Als letzter Öffi-Punkt trennte die bunten und nicht so bunten Freaks von hier aus nur noch ein drei Kilometer Fußmarsch zu ihrem Ziel: Heiß begehrt war der „Jugendclub Extrem“ in Lugau. Unscheinbarer Name, aber diese Stätte bot vielen rebellischen Seelen ihren bitternötigen Freiraum.
Wo allerorts öde Staatsmanier und eskalierender Trabifetischismus aufzufinden war, geschah im winzigen Lugau der verrückte Nervenkitzel. Eine kleine Bande organisierte hier unter dem Schleier des FDJ-Vereins „Helden des Fortschritts“ seit 1984 Konzerte und bot damit einen Anlaufpunkt für viele Umlaufpunks. Schon bald sprach sich die Oase inmitten der Zonenwüste herum und aufgrund der Anbindung des Kreuzbahnhofes in Do-Ki, zog es nicht nur systemfaule Landeier zu den Musikabenden, sondern auch Punker:innen aus Dresden, Leipzig, Berlin und Cottbus. Immerhin waren es auch Events, die es sich zu Besuchen lohnte; abgefahrene Bands, Shows und Partys; Samstag für Samstag. Die graue Idylle wurde also zum auserkorenen Ort für vorsätzliche Strandungen all jener, denen das Herz und der Verstand nach einem Leben fernab von diktierten Bedingungen brannte.
Wie das alles so aussah, soll hier kurz umrissen werden. Ein nachträglich zusammengebastelter, semi-fiktiver aber auf Erzählungen basierender Bericht über DAS subkulturelle Phänomen des Ostens. Zeitmaschine an und Demokratie aus!
Samstag Abend: Genug geknufft für die Woche und ab nach Lugau zu nem geilen Konzert! Angerückt am Bahnhof in Do-Ki, lässt sich der Klub über einen mit Teer besifften Straßenweg in höchstens zwei Bierlängen erreichen. Proviant wird für den Weg freilich immer mitgenommen. So lässt es sich aushalten. Die Zeit vergeht rasch trotz der langen Fahrt. Eine eigene Karre ist schon ein Luxus, weshalb wir auch die meiste Zeit mit dem Zug bis nach Do-Ki fahren und den Rest dann laufen. Stellt mal eine großzügige Seele den Trabi der Eltern oder Großeltern zur Verfügung, kommt es auch schonmal vor, dass wir uns da zu viert oder fünft reinzwängen und uns direkt vor die Tür des Jugendclub Extrem katapultieren. Das Haus ist eigentlich eine Gaststätte. Aber Freitag oder Samstag wird daraus der Himmel auf Erden. Es spielen geile Bands aus verschiedenen Stilrichtungen, hauptsächlich aber unzufriedene Schrammelmusik zum Einsteigen, Davondenken und Entfliehen – zumindest für einen Abend.
Draußen stehen auch Leute rum und belungern die kleine Dorfstraße. Meist sind es dutzende, an guten Tagen sogar hunderte! Alle irgendwie anders gekleidet als die Stinos auf den Dörfern und in den Städten: bunt, zerissen, bemalt, zerfleddert, gepierct, umgenäht, besprüht.. Wo du hinguckst, du fühlst dich zu Hause! Und kein Mensch glotzt dich doof an! Und du kannst alle nach ner Kippe fragen – ein Traum! Da spürste einfach, dass uns hier wirklich was vereint.
Gegenüber ist eine Kirche samt Friedhof und alles was halt so dazugehört. Da wird dann auch gerne mal hingepisst oder an einen Grabstein gekotzt. Was muss, das muss halt. Aber weniger aus Prinzip als eher dem Umstand geschuldet, dass da halt die ganzen Larven zuerst hinsteuern wenns aus der Kneipe geht. Die ganze Dorfstraße sieht dann auch mal aus wie sau. Die Soßen schmecken übrigens, und wenn sie alle sind, schmeißen wir die Glaspullen einfach in die eine Ecke auf dem Gasthofgrundstück. Da sammelt sich mittlerweile über die Abende verteilt ein ganzer Berg an Bierflaschen an. Das macht so schnell keine:r nach.
Ob die Bands auch wirklich spielen, ist nicht immer sicher. Manchmal bleibt die Karre von denen auch irgendwo liegen und die kommen dann nicht. Oder die verfahren sich nach Lugau ins Erzgebirge.. na schöne Scheiße; dann stehen die da im tiefsten Sachsen und finden natürlich keinen Jugendclub Extrem mit feierwütigem Publikum. Und bei der Strecke brauchste mit’m Auto dann auch nicht mehr bis nach Brandenburg juckeln. Aber egal, fetzen tuts trotzdem. Der Hammer war, als hier mal ne West-Band illegal gespielt hat. Die wurden einfach rübergeschleust und haben dann ein Konzert gegeben – das war krass.
Dabei konnte da schon ne Menge passieren wegen dieser Stasi-Scheiße. Da biste schnell mal in‘ Bau gewandert für sone Späße. Aber zum Glück waren die auch oft zu doof um ihre Verbote und Auflagen durchzusetzen, und so blieb da meistens nur ein zahnloser Papiertiger übrig. Der FDJ wurde dann immer gesagt, dass hier Konzerte stattfinden und alles (meistens) brav angemeldet, aber gerafft, dass wir den ganzen Staat zum Kotzen finden, hat da niemand wirklich. Aber eigentlich war das auch nicht zu übersehen. So ging die Zeit ins Land und der Jugendclub Extrem hat vielen Leuten etliche schöne Abende beschert; trotz aller Risiken und Hindernisse. Das war schon echt geil.
Das war also ein kleiner Einblick in ein etwas anderes Leben zu komplett anderen Umständen. Wie würde wohl eine solche Erinnerung in 30 Jahren aussehen, in der Leute über unsere jetzige Zeit berichten? Wir haben wohl die Wahl, etwas auf die Beine zu stellen oder uns zu Hause Arte-Dokus über die guten alten Zeiten der obskuren Subkulturen und ihrem magischen Tatendrang reinzuziehen. Beides ist auch möglich.
Ready or not, we’re the only game in town..
Bis dahin lassen sich die Kirchturmspitzen Lugaus vom Bahnhof in Do-Ki aus betrachten, nämlich wenn du am Bahnsteig Richtung Berlin auf der Brücke stehst und in die post-Zonenwüste schaust.